Die Regeln des Strassenverkehrs, die wir während der Fahrschulausbildung erlernt haben, ermöglichen uns die Berechnung und Schätzung des Bremswegs unseres Autos. Einige unter uns können sich möglicherweise noch an die allgemeine Regel erinnern, die zur Bestimmung des Bremswegs und des minimalen Sicherheitsabstands zum vorausfahrenden Fahrzeug verwendet wird.
Aber wie verhält es sich mit dem Fahrradfahren? Wie berechnen wir den Bremsweg für ein Fahrrad oder E-Bike? Welche Faktoren beeinflussen den Bremsweg? Und weshalb ist der Anhalteweg stets länger als der Bremsweg? Hier finden Sie einen informativen Leitfaden zur Berechnung von Brems- und Anhaltewegen beim Rad- und E-Bikefahren.
Berechnung von Brems- und Anhalteweg
Der gesamte Anhalteweg umfasst den Bremsweg – die Distanz, die das Fahrzeug während der Bremsung zurücklegt – und den Reaktionsweg, also die Strecke, die wir während unserer Reaktionszeit noch zurücklegen, bevor wir die Bremsen betätigen. Die Formel lautet folgendermassen:
Anhalteweg = Bremsweg + Reaktionsweg
Im Folgenden werden wir uns damit befassen, wie Bremsweg und Reaktionsweg berechnet werden:
Berechnung des Reaktionswegs
Der Reaktionsweg wird durch die Geschwindigkeit des Fahrzeugs und die benötigte Reaktionszeit bestimmt:
Reaktionsweg = Geschwindigkeit × Reaktionszeit
Angenommen, wir fahren mit einer Geschwindigkeit von 20 km/h und brauchen 2 Sekunden, um auf eine Situation zu reagieren und die Bremsen zu betätigen. In dieser Zeit legen wir eine Strecke von 11,11 Metern zurück:
Geschwindigkeit = 20 km/h = 5,56 m/s Reaktionszeit = 2 s
Reaktionsweg = 5,56 m/s × 2 s = 11,11 m
Hätten wir eine Sekunde früher reagiert und gebremst, wäre unser Fahrzeug 5,56 Meter früher zum Stehen gekommen. Daraus wird deutlich, dass eine schnelle Reaktion massgeblich dazu beiträgt, den Anhalteweg zu verkürzen. Daher ist es wichtig, insbesondere in potentiell gefährlichen Situationen, immer bremsbereit zu sein.
Berechnung des Bremswegs
Durch die Anwendung des Weg-Zeit-Gesetzes und des Geschwindigkeit-Zeit-Gesetzes lässt sich die Formel zur Ermittlung des Bremswegs ableiten:
Bremsweg = ½ × Geschwindigkeit² / Bremsverzögerung
Für eine genaue Berechnung des Bremswegs ist es daher unerlässlich, die Bremsverzögerung zu kennen.
Bremsverzögerung beim Radfahren
Beim Radfahren führt das Bremsen zu einer Verminderung der Geschwindigkeit, was als negative Beschleunigung oder Bremsverzögerung [m/s²] bekannt ist. Mit einer kombinierten Anwendung von Vorder- und Hinterradbremse wird die optimale Bremsverzögerung erreicht. Dies wird erzielt, indem beide Bremsen gleichzeitig betätigt werden und die Vorderadbremse so moduliert wird, dass das Hinterrad gerade nicht abhebt. Die Tendenz des Hinterrads zum Abheben erhöht sich mit steigender Höhe des Massenschwerpunkts, der wesentlich durch die Körperhaltung beeinflusst wird. Ein Rennradfahrer mit vorgebeugter Haltung hat beispielsweise einen niedrigeren Massenschwerpunkt als ein Citybike-Fahrer mit aufrechter Haltung.
Ungeachtet dieser Faktoren erreicht man die maximale Bremsverzögerung nur mit ausreichender Erfahrung in Fahrradhandhabung und Bremspraxis. Die im Folgenden genannten Werte sind daher nur von sehr erfahrenen Radfahrern erreichbar. Für durchschnittliche Radfahrer wird die Bremsverzögerung geringer sein. In einer Studie wurden die maximal möglichen Bremsverzögerungen verschiedener Bremssysteme unter idealen Bedingungen gemessen, d.h. bei Vollbremsung mit Stollenreifen auf trockenem Asphalt:
Liste von Bremssystem und Bremsverzögerung
Hydraulische Scheibenbremse: 6,8 m/s²
Mechanische Scheibenbremse: 5,9 m/s²
Hydraulische Felgenbremse: 6,0 m/s²
V-Brake: 6,0 m/s²
Cantileverbremse: 4,9 m/s²
Seitenzugbremse: 4,7 m/s²
Zusätzliche Faktoren, die die Bremsverzögerung beeinflussen:
- Straßenbelag: Asphalt und Beton weisen einen hohen Reibungskoeffizienten (µ) auf, während Schotter und Lehmboden geringere Werte haben.
- Nässe: Sie reduziert die oben genannte Bremsverzögerung um 10 – 15%.
- Reifenprofil: Bei Straßenprofilen ist die Bremsverzögerung um 0,6 m/s² niedriger als bei Stollenprofilen.
Es gibt zwar Faktoren, die die Bremsverzögerung erhöhen könnten, aber der vergleichsweise hohe Massenschwerpunkt und die daraus resultierende Neigung zum Abheben setzen eine Obergrenze. Bremsweg berechnen Mit den Werten für die Bremsverzögerung (siehe oben) können wir nun den Bremsweg berechnen. Angenommen, wir bewegen uns mit einer Geschwindigkeit von 20 km/h auf einem Fahrrad mit einer V-Brake-Bremse. Unter optimalen Bedingungen ergibt sich bei einer Vollbremsung folgender Bremsweg:
Bremsweg = ½ × Geschwindigkeit² / Bremsverzögerung Bremsweg = ½ × (5,56 m/s)² / 6 m/s² Bremsweg = 2,6 m
Berechnung des Anhaltewegs
Der Anhalteweg für unser Beispiel (20 km/h, 2 Sekunden Reaktionszeit, perfekt eingestellte V-Brake, maximale Bremsverzögerung, flache Strecke) errechnet sich wie folgt:
Anhalteweg = Bremsweg + Reaktionsweg; Anhalteweg = 2,6 m + 11,11 m; Anhalteweg = 13,71 m
Verständnis von Theorie und Praxis beim Bremsen
Die korrekte Interpretation der berechneten Ergebnisse ist genauso entscheidend wie die Berechnung selbst:
- Das meiste Potential zur Verkürzung des Anhaltewegs liegt in der Reduzierung der Reaktionszeit. In unserem Beispiel führt bereits eine Sekunde weniger Reaktionszeit zu einem um 5,56 Meter kürzeren Anhalteweg.
- Der erstaunlich kurze Bremsweg von 2,6 Metern kann nur unter der Voraussetzung erreicht werden, dass die Bremse perfekt justiert ist. Bei einer V-Brake umfasst dies beispielsweise eine angemessene Vorspannung, einen reibungslosen Betrieb der Bowdenzüge, die korrekte Einstellung der Bremsbeläge, eine geeignete Gummizusammensetzung der Bremsklötze und die optimale Ausrichtung der Bremsbeläge zur Felge.
- Ein durchschnittlicher Radfahrer wird vermutlich nicht über die erforderliche Praxis verfügen, um eine Notbremsung so kontrolliert durchzuführen, dass sie gerade an der Schwelle zum Aufsteigen des Hinterrads liegt. Daher wird der tatsächliche Bremsweg eher 3 bis 4 Meter betragen.
- Eine Notbremsung verursacht einen erheblichen Verschleiß am Reifenprofil. Daher ist es im Interesse des Fahrradbesitzers, solche Extrembremsungen so weit wie möglich zu vermeiden. Hierbei ist ein defensiver und vorausschauender Fahrstil der Schlüssel zum Erfolg.